Realität und künstlerische Freiheit

Ich habe mein erstes Laufener Gemälde schon weit gebracht, da fällt mir auf, dass ich dem Werksgebäude bei einer von 6 Fensterreihen 5 statt 4 Fenster gegeben habe. Mein erster Impuls ist, dies zu korrigieren, ein Problem wäre das nicht. Doch beim längeren Betrachten frage ich mich, ob es dieser Korrektur wirklich bedarf. Die Stelle ist so schön gemalt und fügt sich so gut in den Gesamtrhythmus des Bildes, gerade wegen dieser Unregelmäßigkeit. Aber, sagt eine Stimme in mir, deine Arbeit ist doch auch eine dokumentarische, du willst Dinge festhalten, wie sie sind, da kannst du doch nicht etwas falsch malen! Das ist eine Zwickmühle, die sich bei meinem Arbeitsfeld immer wieder ergibt: ich möchte einerseits zeigen, was ist, fühle da auch einen Auftrag, andererseits will ich frei arbeiten, das Bild soll für sich stehen, eine Stimmung ausdrücken, seinen Rhythmus, seinen Klang haben. Es ist so: So faszinierend ich z. B. fotorealistisches Arbeiten finde, ist es mir doch auf Dauer zu wenig, zu glatt, zu langweilig. Ich möchte Brüche und Ausbrüche. So sind ja auch meine Motive, voller Brüche, verschiedene Materialien, Baustile, Zeiten prallen aufeinander, Vieles ist kaputt oder im Umbruch oder bedroht. Trotzdem bleibt es immer wieder ein Kampf und erfordert Mut, vom rein realistischen Arbeiten weg zu kommen. Wieviel Realismus, wieviel Freiheit braucht der innere und äußere Auftrag, einen Ort zu malen? Bremst ein solcher Auftrag meine künstlerische Freiheit? Oder wirft er vielmehr Fragen auf, mit denen es immer wieder lohnt, sich zu beschäftigen?

Eine wunderbare Anekdote, was obige Überlegungen angeht: Max Liebermann unterhielt sich mit einem Kollegen über das Bild von Cezanne „Knabe mit roter Weste“ und sagte zu dessen Kritik über die fehlerhafte Anatomie des Armes: „Der Arm ist so schön gemalt, der kann gar nicht lang genug sein!“ Dieser Satz macht mir heute noch Mut, er ist letztendlich ja auch eine Grundlage der modernen Kunst.

Ich beschließe, die Fenster so zu lassen, wie ich sie gemalt habe. Meine Arbeit hat zwar einen dokumentarischen Aspekt, aber der künstlerische steht darüber. Fragen die Betrachtenden, was sie nicht selten tun: „Sieht das wirklich so aus?“, werde ich sagen: „Nein, aber ich wollte es so malen.“ Und dann können wir evtl. darüber ins Gespräch kommen, warum. Das ist doch viel spannender als ein Bild, das keine Fragen aufwirft!

Albstadt-5-Fenster